Wie im Zeitraffer verändert: Podiumsdiskussion über die Entwicklungen in der Türkei

Am 17. Januar luden die Europa-Union Parlamentariergruppe im Deutschen Bundestag und die Südosteuropa-Gesellschaft ein zu einem Expertengespräch über die aktuellen Entwicklungen in der Türkei. Wie lässt sich der plötzliche Wandel in der Türkei erklären? Welche Auswirkungen haben die Veränderungen auf die Türkei und Europa? Und wie können und sollten sich die europäischen Staaten verhalten? Über diese Fragen diskutierten Gerald Knaus, Vorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI), Günter Seufert von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und der Bundestagsabgeordnete Manuel Sarrazin, Vorsitzender der EUD-Parlamentariergruppe.

Panel mit Gerald Knaus, Manuel Sarrazin MdB, Michael Thumann, Günter Seufert und Christian Moos (v.l.n.r.) Foto: EUD

„Wir sehen, wie sich die Türkei wie im Zeitraffer verändert“, brachte Moderator Michael Thumann, außenpolitischer Korrespondent der ZEIT, die Situation auf den Punkt. Die Türkei erwarte eine neue Verfassung, ein neues System und womöglich ein Ende des Parlamentarismus. „Auch hierzulande spüren wir diese Spannungen“, sagte Christian Moos in seiner Begrüßung. Es sei lohnend darüber zu reden, wie sich die Europäer zu den problematischen Entwicklungen verhalten könnten, so der Europa-Union Generalsekretär. Dass die Ereignisse der jüngsten Zeit vielen Anlass zur Sorge geben, zeigte sich auch an den Stimmen aus dem Publikum in der späteren Diskussion.

Ein großes Thema des Abends war die geplante neue Verfassung, die unter anderem ein Präsidialsystem vorsieht. „Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass eine Verfassung geändert wird, damit alles so bleibt, wie es im Augenblick ist“, erklärte Günther Seufert von der SWP. Das Präsidialsystem solle deshalb eingeführt werden, um über den Mechanismus einer Stichwahl sicherzustellen, dass die konservative Mehrheit in der Türkei in jeder Wahl ihren Kandidaten durchbringen könne, so Seufert. In diesem Verständnis würden Wahlen als einziges Kriterium für Demokratie herangezogen. Die Reform würde zudem stark auf eine Einpersonenherrschaft herauslaufen, wie sie die Türkei bereits jetzt faktisch habe.

Das Vorhaben, „Stabilität durch Machtkonzentration und Ausschalten aller Kontrollmöglichkeiten zu erlangen, ist zum Scheitern verurteilt“, betonte Gerald Knaus. Er wies darauf hin, dass sich auch der Diskurs im Land verändert habe. Kinder lernten in der Schule heute wieder, dass sich die Türkei gegen Feinde verteidigen müsse. „Die Rede vom ewigen Krieg führt zurück in die Instabilität“, ist Knaus überzeugt. Auch die Lage der Wirtschaft und die durch Entlassungen geschwächte Bürokratie gäben Anlass die künftige Stabilität des Systems in Zweifel zu ziehen, merkten Diskussionsteilnehmer aus dem Publikum an. Die außenpolitische Zuspitzung und die Aussage, dass sich die Türkei im Kriegszustand befinde, habe die früher gespaltene Rechte in der Türkei geeint, analysierte Sarrazin. Auf die Frage, ob sich die Menschenrechtslage in der Türkei nach der Verfassungsänderung entspannen wird, antwortet Sarrazin, er glaube nicht, dass dies dem Charakter des Systems entspräche. „Mein Eindruck ist, dass man aus dem, wie Erdogan vorgeht, schließen kann, dass er den Machtkampf, der seit einigen Jahren ausgetragen wird, nicht für endgültig entschieden sieht.“

Intensiv diskutiert wurde an dem Abend auch, wie sich die europäischen Staaten in der aktuellen Situation verhalten sollten und ob weitere Kapitel im Erweiterungsprozess eröffnet werden sollten. „Wir müssen in der EU wieder zu einer gemeinsamen Türkeipolitik kommen“, betonte Günter Seufert. Diese habe es seit 2005 nicht mehr gegeben. Es sei versäumt worden, der europäischen Bevölkerung zu erklären, dass Europa an einer wirtschaftlich starken und stabilen Türkei ein vitales Interesse habe. Gerald Knaus sieht die Erfolgsperiode der Türkei in der Zeit, in der sie sich an der EU orientiert habe. „Es gab eine Zeit, in der die Perspektive einer Mitgliedschaft in der EU ein innertürkisches Friedensprojekt war“, meint auch Günter Seufert.  So hätten unter anderem die Kurden damit eine Förderung ihrer kulturellen Rechte, die Alewiten die Garantie ihrer Rechte als Minderheit und Erdogan die Einführung der Religionsfreiheit nach angelsächsischem oder deutschen Modell verbunden. Die Eröffnung neuer Kapitel hält Knaus für „Symbolpolitik, die nichts mit Reformen zu tun hat“. Er regte an, die Visafreiheit allen Türken für einen begrenzten Zeitraum zu ermöglichen, eine Verlängerung aber von konkreten Reformen abhängig zu machen. So könne man versuchen, Einfluss auf die Menschenrechtslage zu nehmen und Folter zu bekämpfen, die auch im türkischen Recht verboten sei. Auf diese Weise könne man auch den jungen Türken zeigen, dass Europa nicht antitürkisch eingestellt sei. Auch Seufert spricht sich für realistische rote Linien in der Türkeipolitik aus. Sobald die Verfassung beschlossen sei, sieht er kein Fundament mehr für das Weiterführen der bisherigen Beitrittsverhandlungen. Manuel Sarrazin spricht sich dafür aus, mit der Türkei weiterhin im Gespräch zu bleiben. „Die Türkei aufzugeben, wäre nicht klug“, sagt Sarrazin. Das würde Europas Handlungsmöglichkeiten nicht erweitern.

Den Audiomitschnitt der Veranstaltung sowie einen weiteren Bericht finden Sie auf der Webseite von Manuel Sarrazin MdB, Vorsitzender der Parlamentariergruppe der Europa-Union Deutschland.