Offiziell eröffnet wurde der Bürgerdialog von Prof. Dr. Gabriele Abels, Politikwissenschaftlerin an der Universität Tübingen, die als Moderatorin durch die Veranstaltung führte. Danach folgte ein kurzes Grußwort von Christian Gangl, Erster Bürgermeister der Stadt Sindelfingen, bei welchem er die Bedeutung Europas vor Ort betonte. Denn Europa könne nur funktionieren, wenn es auf der lokalen Ebene gelebt werde. Bevor die Moderatorin zu dem einführenden Gespräch mit den Mitwirkenden überleitete, wurden die insgesamt 75 Teilnehmenden dazu aufgerufen, mit Hilfe von grünen und roten Abstimmungskarten die Frage zu beantworten, ob sie von der Konferenz zur Zukunft Europas bereits gehört hatten. Das war bei der überwiegenden Mehrheit der Anwesenden der Fall. Danach waren zunächst die Mitwirkenden gefragt, ihre Erwartungen und Forderungen an die Zukunftskonferenz aus ihrer jeweiligen kommunalen, regionalen sowie europäischen Perspektive zu erörtern.
Dr. Renke Deckarm, stellvertretender Leiter und Pressesprecher der Vertretung der Europäischen Kommission in München, hob das Ziel der Kommission hervor, möglichst viele Menschen mit der Konferenz zur Zukunft Europas zu erreichen. Viele engagierte Europäerinnen und Europäer würden sich bereits auf der Online-Plattform einbringen. Es werde nicht mehr nur über die Struktur der EU gesprochen, sondern die Zukunftskonferenz gehe einen Schritt weiter und eröffne Raum für eine thematische Diskussion über Politik. Dabei hob Deckarm hervor, dass es noch nie so einfach gewesen sei, die europäische Politik aktiv zu beeinflussen. Und diese Möglichkeit sollten alle Bürgerinnen und Bürger wahrnehmen. Aus kommunaler Sicht betonte Gangl, dass mittelgroße Städte mehr gehört werden müssten, insbesondere bei europaweiten Themen wie Finanz- und Fördermittelpolitik. Dafür setze sich das „Eurotowns“-Netzwerk ein. Als Forderungen an die Zukunftskonferenz nannte Gangl die Hoffnung, mehr Transparenz zu schaffen und die EU dadurch erlebbarer zu machen, um die Bürgerinnen und Bürger langfristig und nachhaltig einbinden zu können. Florian Hassler, Staatssekretär und Vertreter des Landes Baden-Württemberg bei der EU, verwies aus regionaler Sicht darauf, dass das Land Baden-Württemberg sich aus voller Überzeugung mit dem Ziel, die Bürgerbeteiligung zu stärken, bei der Zukunftskonferenz einbringe. So würden eigene Bürgerdialoge, auch im Rahmen der Donauraumstrategie mit Jugendlichen, durchgeführt. Von der Zukunftskonferenz erwartete Hassler, dass die EU mehr Handlungsfähigkeit bei globalen Themen wie Klimaschutz und Migration entwickeln müsse. Generell sei bei vielen Themen, wie beispielsweise beim Katastrophenschutz und im Gesundheitsbereich, mehr grenzüberschreitende Zusammenarbeit notwendig. Die Europaabgeordnete Evelyne Gebhardt betonte aus europäischer Sichtweise, dass das Europäische Parlament (EP) als direkte Vertretung der Bürgerinnen und Bürger an der Arbeit der Zukunftskonferenz aktiv beteiligt werden müsse. Daher sei die Forderung des EP die Schaffung einer Vision für Europa mit besonderem Blick auch auf die jungen Menschen. Gebhardt forderte ebenfalls mehr Zusammenarbeit in der Gesundheitspolitik, die Verteidigung der EU-Wertegemeinschaft sowie eine von den USA unabhängige Außen- und Sicherheitspolitik.
Der offene Austausch der Bürgerinnen und Bürger mit den Mitwirkenden war in zwei thematische Blöcke eingeteilt, die jeweils mit einer Abstimmungsfrage eingeleitet wurden, welche das Publikum mit den Abstimmungskarten bewerten konnte. Der erste Themenblock mit dem Titel „Vor der Haustüre: Was wünschen wir uns in Zukunft von Europa für Sindelfingen, für Baden-Württemberg?“ war geprägt durch vielfältige Fragen des Publikums zum Subsidiaritätsprinzip mit Blick auf die fehlenden Kompetenzen der EU im Gesundheitsbereich, zu der EU-Richtlinie über Medizinprodukte, der Einhaltung des Umweltschutzes vor Ort sowie der Forderung, die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der Politikgestaltung zu verbessern und generell zu verstetigen. Über die Wichtigkeit des Subsidiaritätsprinzips, aber auch über dessen Komplexität, waren sich die Mitwirkenden anschließend einig. Dabei betonte Gangl, wie stark sich die Betrachtungsweise auf das Subsidiaritätsprinzip im Zuge der Pandemie verändert habe. Hassler zeigte mit Blick auf die Medizinprodukte und am Beispiel des Brexits die Relevanz eines gemeinsamen Binnenmarktes auf. Auch Gebhardt hob hervor, dass gemeinsame Standards und Regeln unerlässlich seien, zum Beispiel bei der Umsetzung von Richtlinien in nationales Recht, was in der Vergangenheit nicht immer reibungslos funktioniert hätte. Deckarm verwies auf den hohen Stellenwert der sozialen Sicherheit in der EU und brachte das EU-Kurzarbeitsprogramm „SURE“ als Beispiel dafür an, dass Europa im Zuge der Pandemie vielen Menschen direkt geholfen habe.
Die Diskussion im zweiten Themenblock mit dem Schwerpunkt „In Europa und der Welt: Was wünschen wir uns von der EU bei den Themen Wirtschaft und Soziales, Klimaschutz, Außen- und Sicherheitspolitik, Demokratie und Werte?“ war ebenfalls geprägt von vielfältigen Beiträgen der Teilnehmenden. Bei der einleitenden Abstimmungsfrage sprach sich eine Mehrheit der Anwesenden für eine stärkere Rolle der EU in der Welt aus. Eine der Fragen aus dem Publikum befasste sich mit der Forderung nach einer humanen EU-Flüchtlingspolitik, eine andere thematisierte die fehlende Kontrolle der EU im Bereich der IT-Sicherheit mit Blick auf große Firmen wie Google, Facebook und Microsoft. Ein Teilnehmer betonte, dass die EU häufiger handeln müsse, statt oft nur zu reden. Ein anderer sprach sich für die Europäische Staatsbürgerschaft aus, die nationale Staatsbürgerschaften ersetze. In der Antwortrunde verwies Deckarm zunächst auf die Ankündigung der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union, dass es eine Europäische Verteidigungsunion brauche. Wichtig dafür sei auch der geplante Gipfel zur Europäischen Verteidigung unter der Ratspräsidentschaft Frankreichs. Hinsichtlich der Cybersicherheit und dem europäischen Umgang mit globalen IT-Firmen hob Deckarm hervor, dass es zukünftig wichtig sei, europäische Daten nicht aus der Hand zu geben und vermehrt mit einer EU-Cloud zu arbeiten. Ein Grundproblem sei das Einstimmigkeitsprinzip in der Außen- und Sicherheitspolitik, wobei die Erkenntnis bei den Staaten wachse, dass sich hierbei etwas ändern müsse. Gebhardt sprach sich ebenfalls für einen europäischen Pass aus, betonte aber, dass das eine nationale Frage sei und keine europäische. Die EU kümmere sich nicht nur um „Klein-Klein“, sondern darum, dass europäische Regeln in verschiedenen Bereichen umgesetzt werden, wie beispielsweise bei der Gewährleistung von Produktstandards in der EU. Gebhardt hob ebenso das Problem des Einstimmigkeitsprinzips hervor, was ein Vorankommen behindern würde. Auch Hassler zählte neben den Schwierigkeiten im Zuge der notwendigen Einstimmigkeit die weiterhin strittige Verteilung von Geflüchteten innerhalb der EU auf. Mehr Pragmatismus sei notwendig, um schwierigen Fragen zu begegnen. Auch fehle es an europäischer Solidarität mit den Menschen in Afghanistan. Für den Austausch über den Stand der Digitalisierung in mittelgroßen Städten betonte Gangl die Bedeutung des „Eurotowns“-Netzwerkes. Insbesondere Programme wie Erasmus+ und die Städtepartnerschaften hätten unter der Pandemie gelitten. Wichtig für die Region und die Menschen vor Ort sei auch die Frage, wie sich der Wandel in der Autoindustrie zukünftig gestalten werde.
Nach einem kurzen Schlusswort von der Europaabgeordneten Gebhardt beendete die Moderatorin Abels den Bürgerdialog mit dem Appell an die Bürgerinnen und Bürger, eigene Erwartungen und Forderungen aktiv in den europaweiten Dialogprozess der Konferenz zur Zukunft Europas einzubringen, indem sie diese auf der multilingualen Online-Plattform der EU-Zukunftskonferenz eintragen.
Die Veranstaltung fand im Rahmen der bundesweiten Bürgerdialogreihe „Europa – Wir müssen reden!“ statt, die vom Europäischen Parlament gefördert wird. Als Kooperationspartner beteiligt waren die Europa-Union Baden-Württemberg, die Jungen Europäischen Föderalisten (JEF) Baden-Württemberg sowie die Stadt Sindelfingen.