Die Aufzeichnung des Online-Bürgerdialogs "Eine Zweitstimme für Europa 2024? Die Reform des EU-Wahlrechts" vom 6. September 2022 ist hier abrufbar.
Am 3. Mai 2022 hat das Europäische Parlament einen Vorschlag für eine grundlegende Reform des EU-Wahlrechts beschlossen. Dieser beinhaltet u.a. eine Sperrklausel von 3,5 Prozent, Regeln für mehr Geschlechtergerechtigkeit sowie eine Stärkung des Spitzenkandidatenprinzips und vor allem europaweite Kandidatenlisten in Form von transnationalen Listen. Zusammen sollen diese Vorschläge die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit stärken. Der Ampel-Koalitionsvertrag unterstützt eindeutig transnationale Listen und auch die Europaabgeordneten der CDU/CSU-Fraktion haben in Straßburg für die Wahlrechtsreform gestimmt. Der Bundestag hat jedoch noch nicht eindeutig die Unterstützung beschlossen. Daher hat die Europa-Union Deutschland e.V. Bundestagsabgeordnete der Regierungsparteien und der Opposition eingeladen, um sich den kritischen Fragen der Zivilgesellschaft zum Thema EU-Wahlrechtsreform zu stellen.
Bevor es in den direkten Austausch mit den Teilnehmenden ging, führte Christian Beck, Präsidiumsmitglied der Europa-Union Deutschland, mit einem Grußwort thematisch in die Reform des EU-Wahlrechts ein. Dabei fasste er noch einmal für alle Mitwirkenden und Teilnehmenden zusammen: „Europa braucht jetzt zu dringend gemeinsame Antworten, als dass wir uns getrennte nationale Wahlkampfdebatten noch leisten können“. Des Weiteren machte Beck auf die Dringlichkeit der Debatte aufmerksam, da bereits bei der Sitzung des Rates für allgemeine Angelegenheiten am 20. September die EU-Regierungen ihre gemeinsame Position vorbereiten werden. Ob die Reform noch rechtzeitig zur nächsten Europawahl umgesetzt wird, scheint ein Rennen gegen die Zeit zu sein, da Änderungen am Wahlrecht nicht später als ein Jahr vor der Wahl erfolgen sollen.
Die Teilnehmenden, die sich aus verschiedenen Teilen Europas zugeschaltet hatten, bestätigten zu Beginn der Veranstaltung eindeutig, dass eine Reform des EU-Wahlrechts noch vor der Europawahl 2024 notwendig sei. Auch aus der Sicht der FDP bekräftigte Stephan Thomae die Unterstützung für eine Wahlrechtsreform. Er persönlich sieht in der Wahlrechtsreform eine große Chance, dem Europaparlament mehr Legitimation für seine Entscheidungen zu ermöglichen. Jedoch merkte Thomae an, dass Wahlrechtsreformen gut erklärt werden müssten, um das Vertrauen der Bevölkerung nicht zu verlieren. Die europapolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion Chantal Kopf sprach sich ebenfalls für die Unterstützung des Vorschlags des Europäischen Parlaments aus. Sie führt an, dass sowohl die transnationalen Listen als auch das Spitzenkandidatenprinzip bereits im Koalitionsvertrag fest verankert worden seien und sieht darin ein klares Bekenntnis der Ampel-Koalition für die Reform. Zusammenfassend hielt auch Kopf fest, dass „angesichts der Krisen und populistischen Tendenzen […] es wichtig [sei], dass die Europawahlen nicht als bürgerfern und bürokratisch angesehen“ würden.
Der großen Bedeutung der Wahlrechtsreform schließt sich auch der CSU-Abgeordnete Tobias Winkler an. Er sieht in der Europawahl 2024 einen „Moment der europäischen Öffentlichkeit“, da alle Mitgliedstaaten zur selben Zeit über die gleichen Themen diskutieren könnten. Doch wie sieht es hinsichtlich der Unterstützung in anderen EU-Ländern aus?
Sowohl Zustimmung als auch Vorbehalte seien laut Kopf bei anderen EU-Ländern zu finden. Auch Thomae bestätigte dies und führte an, dass seiner Meinung nach bei einer Wahlrechtsreform behutsam vorgegangen werden müsse, da sich sonst kleine Länder übergangen fühlen könnten. Dies könnte zu unerwünschten Nebeneffekten führen, wie z.B. einer teilweisen Delegitimation der Europäischen Union. Kopf hielt dem entgegen, dass es in der Vorlage des Europaparlaments klar definierte Vorschläge für die Aufstellung und Ausgestaltung der transnationalen Wahllisten gäbe. Dazu würde auch die Wahrung der Interessen kleiner Mitgliedstaaten gehören sowie auch die Gewährleistung von Plätzen auf den vorderen Listenplätzen für kleine und mittelgroße Staaten. Daran anknüpfend diskutierten die Mitwirkenden mit den Teilnehmenden, inwiefern sich die Vorbehalte aus anderen EU-Ländern auch im Bundestag wiederfinden.
Thomae wies darauf hin, dass die Sperrklausel von 3,5 Prozent von der FDP nicht befürwortet werden könne. Denn diese würde den Handlungsspielraum von Deutschland, Frankreich und Italien verbindlich einengen, da sie nur für Wahlkreise mit mindestens 60 Sitzen gelten solle. Die Sperrklausel sei laut Frau Kopf ebenfalls für die Grünen im EU-Parlament ein Kompromiss, um das Reformprojekt im Ganzen zu ermöglichen. Die Reform würde an sich aber nicht aktiv von einer Person oder Gruppe im Bundestag gebremst werden. Winkler gab zu bedenken, dass alle großen Mitgliedstaaten außer Deutschlands eine Prozenthürde hätten, weshalb selbst das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich eine europäische Regelung befürworten würde.
Weiterer Abstimmungsbedarf bestand zwischen den Fraktionen hinsichtlich der Paritätsregelung im Vorschlag des Europäischen Parlaments. Thomae stufte die Geschlechterquoten als kritisch ein, da die Einführung von Geschlechterquoten die Wahlfreiheit der Parteien bei der Erstellung ihrer Listen beschränken würde. Zudem wäre auch die Wahlbevölkerung in ihren Wahlmöglichkeiten eingeschränkt, da Kandidatinnen damit höhere Erfolgschancen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen hätten. Die Grünen-Abgeordnete Kopf konterte daraufhin, dass offensichtlich sei, dass die Geschlechtergerechtigkeitsdiskussionen bislang keine konkreten Ergebnisse gebracht hätten. Geschlechterquoten hingegen könnten ihrer Meinung nach ein gutes Instrument darstellen, um die Probleme der fehlenden Repräsentation von Frauen zu beheben.
Es folgte eine weitere Abstimmung für die Teilnehmenden, die sich nach den unterschiedlichen Argumenten der Bundestagsabgeordneten nun selbst im Hinblick auf die Änderungsvorschläge des Europäischen Parlaments positionieren sollten.
Wie auch die Mehrheit der an der Umfrage teilgenommenen Teilnehmenden würde sich auch Kopf für die transnationalen Listen entscheiden. Diese würden viele verschiedene Ziele, wie z.B. die Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit oder die Unterstützung des Spitzenkandidatenprinzips, vorantreiben. Die gleiche Ansicht vertrat auch Thomae, der sowohl die transnationalen Listen, als auch ein verbindliches Spitzenkandidatensystem favorisierte.
Zum Abschluss des Online-Bürgerdialogs sollten die Bundestagsabgeordneten noch erklären, wie sie sich in den kommenden Wochen konkret für die EU-Wahlrechtsreform einsetzen würden. Sowohl Chantal Kopf als auch Stephan Thomae bekundeten, dass sie sich in ihren Fraktionen und im parlamentarischen Prozess intensiv an der Positionierung im Bundestag zum Vorschlag des Europäischen Parlaments beteiligen würden.
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Ein breiter und offener Dialog ist uns wichtig, daher arbeiten wir mit einer Vielzahl von Partnern aus Politik und Zivilgesellschaft zusammen. Der Online-Bürgerdialog wurde von Julina Mintel, freie Moderatorin, moderiert und von der überparteilichen Europa-Union Deutschland e.V. und ihren Landesverbänden in Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen sowie ihren Kreisverbänden Kassel und Frankfurt am Main in Kooperation mit den Jungen Europäischen Föderalisten (JEF) Deutschland veranstaltet. Die Veranstaltung ist Teil des Bürgerdialogprojekts „Europa – Wir müssen reden!“ und wird durch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung gefördert.
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