Welche Bedeutung haben die Geschichte und Deutschlands Schuld an Holocaust und Zweitem Weltkrieg für die deutsche Politik gegenüber Russland und der Ukraine? Warum hat die Ukraine in der deutschen Erinnerungskultur bis zuletzt kaum eine Rolle gespielt? Und welche Verantwortung kommt Deutschland für das Europa von heute und morgen zu?
Unser Medienpartner, das Online-Jugendmagazin „treffpunkteuropa.de“, berichtet auf seiner Webseite über den Online-Bürgerdialog "Krieg in der Ukraine: Deutschland im Angesicht seiner Vergangenheit" vom 1. Juni 2022. Hier folgt ein kurzer Auszug:
"[...] In diesem Punkt waren sich Pryhornytska und Schattenberg einig: Deutschland habe aufgrund seiner Geschichte eine große Verantwortung gegenüber der Ukraine. Nachdem die deutsche Wehrmacht im Juli 1942 das Land überfiel, litten besonders die Ukrainer*innen unter der deutschen Besetzung. Prof. Dr. Schattenberg erklärte, dass das Land im Zweiten Weltkrieg die größten Opferzahlen zu verzeichnen hatte: „2 Millionen ukrainische Soldaten sind gefallen. 1,3 Millionen sind in Gefangenschaft geraten. 5 Millionen ukrainische Zivilist*innen sind ermordet worden. Weitere 2,3 Millionen wurden nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt und auch der Holocaust hat zum großen Teil in der Ukraine stattgefunden“. Diese Zahlen schockieren und, so die Diskutantinnen, sollten Deutschland dazu anregen, die Ukraine stärker zu unterstützen. Auch die Bürger*innen scheinen diese Meinung zu teilen. Über 80% der Teilnehmer*innen glauben, dass Deutschland trotz seiner Geschichte die Bundeswehr stärken und Waffenlieferungen vorantreiben sollte. Natalia Pryhornytska fügte hinzu: „Dieses Bewusstsein fehlt meiner Ansicht nach in der deutschen Gesellschaft schon maßgeblich – noch!“. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich dies nicht verändern könne, unterstreicht sie. Vielmehr müsse diese Bewusstseinsveränderung nun proaktiv gefördert werden.
[…] Susanne Schattenberg führte aus, dass der Kalte Krieg einen Einfluss darauf gehabt hätte, wie die Geschichte bis 1945 bewertet wurde. Dass der Holocaust auch im Osten stattfand, wurde ungern thematisiert, da man der Sowjetunion keinen Opferstatus zuspielen wollte –eine derartige Diskussion hätte zu Reparations- und Entschädigungszahlungen führen können und das wollten westliche Politiker*innen und Staatsoberhäupter vermeiden. Susanne Schattenberg zufolge habe nicht nur die Ukraine, sondern vielmehr Osteuropa insgesamt bislang kaum eine Rolle in der deutschen Erinnerungskultur gespielt. […] Für Susanne Schattenberg sei es eine gravierende Konsequenz, dass in unserem Verständnis weiterhin die Sowjetunion mit Russland gleichgesetzt wird. Die Ukraine werde in dieser Folge oft immer noch als Teil von Russland angesehen, so die Diskutantinnen.
Erst seit 2014, mit der Annexion der Krim, sei die Ukraine sichtbarer geworden. Diese Erfahrung bestätigte auch ein Teilnehmer, der sich zu Wort meldete. Die Bildungslücke sei zu begründen mit strukturellen Problemen innerhalb des Bildungssystems, insbesondere im Geschichtsunterricht. So würde bis heute ein inhaltlicher Fokus auf nicht-westliche Geschichte fehlen und so ganze Zeitperioden sowie geographische Gebiete vom Geschichtsunterricht ausgeschlossen werden. Dies wird auch unterstützt durch die Wortmeldung eines Teilnehmers der gegen Ende seines Berufslebens ein Unternehmen in Polen und später in der Ukraine aufbaute. Er beschreibt, dass er in die Ukraine ging und nicht wusste „was deren Geschichte“ war – so sei es auch seinem Umfeld gegangen. Er sei nun „maßlos enttäuscht, dass der jetzige Bundeskanzler bei der Unterstützung der Ukraine“ bisher zu wenig getan habe. Durch eine weitere Wortmeldung wurde darauf aufmerksam gemacht, dass das ukrainische Volk weder in der Schule noch in den Zeitungen ein Thema war. Es sei immer nur um die Sowjetunion oder um Russland gegangen, da die UdSSR mit Russland gleichgesetzt wurde. Dies erscheint heute als großes Problem, da so „die Ukraine als Ukraine nie richtig war genommen wurde.“ [...]
Beide Diskutantinnen verwiesen außerdem darauf, dass trotz aller Geheimdienstinformationen die Regierungen allerorts von dem russischen Angriff auf die Ukraine überrascht gewesen seien. „Das ist eine Hilflosigkeit im Umgang mit Putin, wo ich auch nur erstaunt den Kopf schütteln kann“ urteilte Susanne Schattenberg. Nataliya Pryhornytska unterstrich zusätzlich, dass bereits vor dem flächendeckenden Angriff am 24. Februar Krieg in der Ukraine geherrscht habe. […] Doch, so waren sich die Mitwirkenden einig, die westlichen Staatsoberhäupter setzten auf Gespräche und milde Warnungen, denn die Hoffnung auf Verhandlung und Abschreckung sei immer vorhanden gewesen. Dies zeige aber nur, dass der Westen in seinem Umgang mit Putin hilflos ist. […]
Niemand kann sich ganz sicher sein, wie eine Europäische Friedensordnung nach Ende des Krieges aussehen wird und welche Rolle Russland in einer solchen spielen könnte. Für Nataliya Pryhornytska würde in dem Aufbau einer solchen Friedensordnung jedoch die regelbasierte Ordnung im Vordergrund stehen. Diese solle unverhandelbar bleiben. Ihrer Meinung nach müsse man hoffen, dass durch wirtschaftliche Sanktionen in Russland ein „Druck von unten entsteht“, welcher dazu führt, die russische Führung um Putin zu stürzen. Alternativ könne eine Sicherheitsordnung auch ohne Putins Russland entstehen, zum Beispiel durch totale Isolation. Susanne Schattenberg war jedoch anderer Meinung: Vielmehr sei „eine Friedensordnung ohne Russland nicht möglich.“ Jedoch sei es wichtig, diesen Frieden ohne Putin zu entwickeln, da er imperialistische Bestrebungen habe und deswegen weiter versuchen werde, andere Länder zu destabilisieren oder sie sich ganz einzuverleiben. […]
Zum Schluss teilten die teilnehmenden Bürger*innen einige interessante Lehren. So stimmten viele Personen dem zu, dass „Moral vor Kommerz“ gestellt werden müsse. Des Weiteren sollte, den Bürger*innen nach, Bedrohungen entschlossener entgegengewirkt werden. Auch müsse Osteuropa ernst genommen werden und das Interesse an diesem Teil unseres Kontinents gefördert werden. Zudem solle ein „Wandel durch Werte“ unterstützt werden. Eine wichtige Lektion dieses schockierenden Kriegs hat sich während des Bürgerdialogs herauskristallisiert, nämlich ein früheres Handeln und ein konsequenterer Umgang mit Russland. Alles in allem, scheinen sich Diskutantinnen und Bürger*innen einig: „We must take sides!“ "
Den vollständigen Artikel lesen Sie hier. Der Online-Bürgerdialog wurde moderiert von Mareen Hirschnitz, freie Moderatorin. Kurze Meldungen und Fotos live vom Online-Bürgerdialog finden Sie auf unseren Kanälen in den sozialen Medien: Twitter, Facebook und Instagram.
Ein breiter und offener Dialog ist uns wichtig, daher arbeiten wir mit einer Vielzahl von Partnern aus Politik und Zivilgesellschaft zusammen. Die Veranstaltung ist Teil des Bürgerdialogprojekts „Krieg in der Ukraine – Bürgerdialoge zur Zukunft der EU“. Die Veranstaltung wurde gefördert durch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung und fand in Kooperation mit der Allianz Ukrainischer Organisationen sowie der Forschungsstelle Osteuropa statt. Weitere Informationen zu unserer bundesweiten (Online-)Bürgerdialogreihe „Europa – Wir müssen reden!“ und alle aktuellen Termine finden Sie hier.