Dr. Babette Winter, Staatssekretärin für Kultur und Europa, unterstrich die Bemühungen des Freistaates, den Mehrwert der EU den Menschen in Thüringen nahezubringen. „Thüringen hat in der Vergangenheit massiv von EU-Fördermitteln profitiert“, betonte Winter. Die Landesregierung erwarte sich von der neuen Kommission und dem neuen EU-Parlament zum einen die Fortführung der Strukturförderung, wenn auch unter angepassten Bedingungen. Weitere Anliegen sind die Umsetzung der Säule sozialer Recht sowie gemeinsame Standards für einen Mindestlohn in den EU-Mitgliedstaaten. Die Kommunikation über Europa zu stärken, darin sieht sie die Aufgabe für die nächsten Monate und Jahre. Schon jetzt würde der Freistaat beispielsweise Europafeste in den Städten und Gemeinden veranstalten. Im Gegenzug wünscht sich sie sich auch mehr europäische Impulse aus der Bürgerschaft. Diese gab es beim Bürgerdialog reichlich. Die Teilnehmenden forderten mehr EU-Engagement im Klimaschutz und eine konsequente Umsetzung der europäischen Werte nicht nur nach innen, sondern insbesondere in der Handels-, Flüchtlings- und Entwicklungspolitik. Viele Stimmen im Publikum sahen weiteren Informationsbedarf bei sich und ihren Mitbürgern. An den vier Thementischen nutzen die Teilnehmenden die Gelegenheit kritisch nachzufragen und erhielten Antworten aus erster Hand.
So berichtete Bernhard Schnittger über den Prozess bis zur Wahl der neuen EU-Kommission. Der stellvertretende Leiter der Vertretung der EU-Kommission in Deutschland erläuterte den Teilnehmenden auch die Problematik des Brexit für die irisch-britische Grenzregion und das Konzept des „Backstop“. Milena Kleine, die im Auswärtigen Amt mit dem Thema Brexit befasst ist, erklärte: „Der Brexit zeigt eine positive Sache: Wenn die EU-Staaten geeint sind und stark hinter einer Position stehen, dann ist die EU stark und kann ihre Interessen durchsetzen.“ Auch in der EU-Handelspolitik sei dies bereits der Fall.
Die Thüringer Europaabgeordnete Marion Walsmann erklärte die wirtschaftliche Verflechtung ihres Bundeslandes innerhalb der EU. „In Thüringen erwirtschaften wir 66 Prozent unserer Einnahmen durch Exporte ins Ausland“, so die frühere Europaministerin. Aus diesem Grund sei die Vervollständigung des europäischen Binnenmarkts insbesondere für die kleinen und mittelständischen Unternehmen von Bedeutung. Besonders freute sie sich über die vielen Multiplikatoren im Publikum, die die Themen des Abends weitertragen werden.
Dass die EU bereits jetzt viel für Umwelt und Klimaschutz tut, wurde an den Thementischen deutlich. „Es gab in der Vergangenheit bereits sehr gute Initiativen der EU, die die Verbraucher nicht wahrgenommen haben“, sagte Ramona Ballod von der Verbraucherzentrale Thüringen und verwies auf die Grenzwerte für Nitrat im Wasser. Da die deutsche Politik die EU-Vorgaben für eine Begrenzung der Abgabe von Nitraten in die Umwelt noch nicht umgesetzt habe, hätte die die Europäische Kommission nun ein Verfahren gegen Deutschland eingeleitet. Die Wasserbetriebe warnten bereits vor steigenden Kosten für die Verbraucher, wenn Nitrate künftig aus dem Trinkwasser gefiltert werden müssten.
Die Landtagsabgeordnete Madeleine Henfling erklärte, dass die EU zwar wichtige klimapolitische Entscheidungen getroffen habe, in der EU beim Klimaschutz allerdings noch zu wenig passiert sei. „Die Nationalstaaten können das Klimaproblem nicht alleine lösen“, sagte Henfling und forderte, den Klimaschutz deutlich zu beschleunigen. Ebenfalls kritisierte sie, dass bei den Kriterien für die EU-Förderung in der Landwirtschaft Umweltschutz derzeit nur eine untergeordnete Rolle spiele.
Beim Bürgerdialog ging es auch um die gesellschaftliche Verantwortung der Wirtschaft. Steuervermeidungsstrategien großer Konzerne fanden Publikum und Referenten gleichermaßen inakzeptabel. Ullrich Geidel, Geschäftsführer dem Unternehmen „N3 Engine Overhaul Service“, unterstrich: „Wichtig ist, dass es klare Regeln gibt und sich alle daran halten“. Man könne von Unternehmen nicht erwarten, dass sie freiwillig Geld abgeben, wohl aber, dass sie sich beispielsweise über die Gewerbesteuer am Gemeinwohl beteiligten.
Sandro Witt vom DGB Thüringen kritisierte, dass in den Mitgliedstaaten zu wenige Prüfer eingesetzt würden, um strafbares Verhalten von Firmen aufzudecken. Wichtig wäre seiner Ansicht nach auch, dass bei der europaweiten Ausschreibung von öffentlichen Aufträgen darauf geachtet würde, dass die Unternehmen nach dem örtlichen Tarif bezahlen. In der Debatte wurde die Forderung laut, dass die EU mehr Kompetenzen erhalten müsse, um beim Thema Steuern und Steuervermeidung etwas bewirken zu können.
Generell wurde in den Diskussionen deutlich, dass sich Dinge ändern müssen. Viele Teilnehmenden wiesen auf die eigene Verantwortung für Umwelt- und Klimaschutz sowie globaler Gerechtigkeit hin, die sich in Alltagsentscheidungen widerspiegelt. Wichtig war vielen Teilnehmenden, dass in der europäischen Politik die Werte der EU noch stärker berücksichtigt werden. Ob Menschenrechte, Umweltstandards oder faire Löhne, was Bürgerinnen und Bürger in der EU für sich zu Recht beanspruchen, müsse auch für die Menschen im Rest der Welt gelten.
Die Debatten an den vier Thementischen wurden von der Graphic Recorderin Sandra Bach verbildlicht und auf großen Postern festgehalten. Die Moderatoren des Abends waren der MDR-Redakteur Ulli Sondermann-Becker, Holger Holland und Dr. Claudia Conen von der Europa-Union Thüringen sowie die freie Journalistin Blanka Weber.
Der Erfurter Bürgerdialog ist Teil der bundesweiten Reihe „Europa nach der Wahl – Wir müssen reden!“, die die überparteiliche Europa-Union Deutschland e.V. gemeinsam mit ihren Landes- und Kreisverbänden sowie Partnern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft veranstaltet.