So hat es sich die Europa-Union auf die Fahnen geschrieben, die Menschen zur Teilnahme an der Europawahl zu mobilisieren, und zwar schon seit der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament 1979. Das betonte Harm Adam, Vorsitzender der Europa-Union Niedersachsen und des Göttinger Kreisverbands, in seinem Grußwort an die Teilnehmenden. Er erwarte von den europafreundlichen Parteien, dass sie kontrovers über europapolitische Konzepte diskutieren, sich bei den dringenden Sachfragen aber zusammenfänden. Wenn dies nicht gelinge, riskiere man „britische Verhältnisse“, so Adam.
Auch Maria Gerl-Plein, stellvertretende Landrätin des Landkreises Göttingen, der kürzlich nicht nur der Europa-Union, sondern auch dem Netzwerk „Niedersachsen für Europa“ beigetreten ist, wünschte sich, dass die Parteien im anstehenden Europawahlkampf „trefflich streiten“. Dabei unterstrich sie: „Wir müssen dafür sorgen, dass bei dieser Europawahl genügend Menschen wählen gehen und dass demokratische Parteien, die Europa voranbringen wollen, satte Mehrheiten erhalten.“ In die Debatte über die Zukunft der Europäischen Union wolle sich der Landkreis konstruktiv einbringen, so Gerl-Plein.
„Diese Wahl ist unheimlich wichtig, betonte der frühere Präsident des Europäischen Parlaments, Dr. Hans-Gert Pöttering. „Es geht darum, ob es am Ende eine proeuropäische Mehrheit im Europäischen Parlament gibt, oder ob Parteien, die gegen Europa sind, die Wahl gewinnen.“ Hatte es 1979 bei seinem ersten Einzug in das Europaparlament noch kaum Kompetenzen für die europäische Volksvertretung gegeben, so entscheide das Parlament heute in nahezu allen Politikbereichen gleichberechtigt mit den nationalen Ministern im Ministerrat. Und auch, wenn das Parlament auf dem Papier noch immer kein Recht habe, Gesetzesvorschläge in den Gesetzgebungsprozess einzubringen, habe es auch hierbei in der politischen Praxis erheblichen Einfluss, betonte Pöttering. So könne das Parlament die Europäische Kommission auffordern, in einer bestimmten Frage gesetzgeberisch tätig zu werden, und dieser andernfalls das Misstrauen aussprechen. Für Pöttering besteht daher kein Zweifel: „Das Europäische Parlament ist mächtig und einflussreich.“
Der Einfluss des Europäischen Parlaments sei auch in der Klimapolitik nicht zu unterschätzen, so die Europaabgeordnete Rebecca Harms. Für Harms ist es eine besondere Leistung der EU, dass diese als erste Union von Staaten weltweit mit den EU 2020 Zielen eine verbindliche Klimagesetzgebung verabschiedet hat. Auch, wenn sich ihre Parlamentsfraktion noch weitreichendere europäische Regelungen zum Klimaschutz gewünscht hätte, betont Harms: „Dass wir als Europäische Union Klimaziele gesetzlich verankert haben, hat uns in der internationalen Politik zu einem Riesen in diesem Politikfeld gemacht.“
Wenig riesenhaft verhalten habe sich die EU laut Noreen Hirschfeld vom Entwicklungspolitischen Informationszentrum Göttingen (EPIZ) dagegen im Umgang mit dem gestiegenen Zuzug von Flüchtlingen im Jahr 2015. So würden beispielsweise über 85 Prozent der Flüchtlinge weltweit in Entwicklungs- und Schwellenländern leben, obwohl die Mitgliedstaaten der EU zu den reichsten der Welt zählten, kritisierte Hirschfeld.
Neben der europäischen Klima-, Asyl-, Migrations-, Außen- und Verteidigungspolitik trieb die Göttingerinnen und Göttinger beim Bürgerdialog besonders auch die Frage nach den Auswirkungen des Brexits um. Am Tag zuvor war das Szenario eines Austritts Großbritanniens aus der EU ohne regelndes Abkommen im britischen Parlament mit knapper Mehrheit vorerst verhindert worden – Ausgang ungewiss.
Auf die Frage, welche wirtschaftlichen Folgen der Brexit für Göttingen und die Region haben könnte, antwortete Birgitt Witter-Wirksam, Vizepräsidentin der Industrie- und Handelskammer Hannover, dass regionale Unternehmen kaum betroffen seien. Zwar könnte der Wegfall des Binnenmarkts mit Großbritannien für manche exportorientierte Unternehmen Nachteile bringen, gleichzeitig gäbe es aber auch einige Sparten, die sich Vorteile erhofften.
Der Landtagsabgeordnete Dr. Christos Pantazis machte deutlich, der Brexit stelle die EU auch vor die Herausforderung, den eigenen Bürgerinnen und Bürgern künftig besser zu vermitteln, welche Vorteile diese bereit halte. Für ihn bedeute dies ganz klar: „Die EU muss ein soziales Antlitz bekommen.“ Hierfür gelte es, „die soziale Säule der EU zu stärken und sich von dem Gedanken zu verabschieden, dass sozialstaatliche Grenzen bestehen“. Vor diesem Hintergrund sprach sich Pantazis beispielsweise für die Einführung eines europäischen Mindestlohns aus.
Auch Prof. Dr. Andreas Busch, Politologe an der Georg-August-Universität Göttingen, sah in einer stärkeren sozialpolitischen Komponente der EU „im Prinzip eine gute Sache“, denn die EU habe als Solidargemeinschaft den Sinn, Schocks abzumildern und bei der Umverteilung zu helfen. Zugleich verwies Busch aber darauf, dass sich die Positionen der Parteien besonders mit Blick auf die soziale Säule der EU stark unterscheiden. Er appellierte daher an die Teilnehmenden des Bürgerdialogs: „Dass das ideologische Spektrum breit ist, müssen wir anerkennen. Wählen Sie die Partei, die sich für Ihre Interessen einsetzt.“ Man dürfe die EU nicht dafür verantwortlich machen, wenn andere Parteien die Mehrheit erhalten und dann andere Präferenzen vertreten.
Zum Abschluss des Bürgerdialogs lud Tobias von Gostomski, Vorsitzender der Jungen Europäischen Föderalisten Niedersachsen, die Göttingerinnen und Göttinger ein, den „motivierenden Geist“ des Bürgerdialogs bis zur Europawahl am 26. Mai beizubehalten und sich an der Kampage „Europa machen“ der Jungen Europäischen Föderalisten und der Europa-Union zu beteiligen.
Moderiert wurde der Bürgerdialog in Göttingen von den freien Journalisten Jan Fragel und Ute Andres. Die Veranstaltung wurde in Kooperation mit der Europa-Union Niedersachsen mit ihrem Kreisverband Göttingen, den Jungen Europäischen Föderalisten Niedersachsen mit ihrem Kreisverband Göttingen und dem Junge Theater Göttingen durchgeführt.