„Though this be madness, yet there is method in't…“, ob dieses Zitat Shakespeares auch auf das Verhalten der Briten beim Brexit anzuwenden und in der aktuellen Lage noch eine Methode erkennbar sei, bliebe abzuwarten, stellte Rainer Wieland, Vizepräsident des Europäischen Parlaments und Präsident der Europa-Union Deutschland, fest. Die neuesten Abstimmungen im Britischen Parlament zum Brexit zeigten bisher nur, dass sich offenbar keine Mehrheit auf Nichts einigen könne. Es werde jedoch deutlich, dass sich über die Diskussionen zum Brexit auch das Interesse an und in den Diskussionen um die EU geändert habe. Umso wichtiger sei es jetzt, diesen Resonanzboden zu nutzen und mit den Bürgerinnen und Bürgern in den Dialog zu treten. Denn wenn Europa in die Brüche gehe oder auseinanderlaufe, wären auch in Deutschland die Dinge nicht mehr so, wie wir sie kennen.
Auch Reiner Haseloff sieht die europäische Einigung aus historischer Sicht und in Anbetracht der aktuellen Entwicklungen als eine der Hauptaufgaben der Politik. „Nur wenn wir zusammenbleiben, haben wir eine Chance“, so der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt. Deswegen sei auch die Europawahl im Mai besonders wichtig. „Lassen Sie uns Wahlkampf führen für die demokratischen Parteien, der zu einem hohen Mobilisierungsgrad führt und zum Ausdruck bringt, dass die demokratische Mitte die stabile Mitte unseres Kontinents darstellt,“ rief Haseloff die Anwesenden auf. Dazu müsse man einander wieder mehr zuhören und in den Dialog treten.
Sir Graham Watson, Schotte, ehemaliger Vorsitzender der ALDE Fraktion im Europäischen Parlament und mittlerweile Mitglied im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, hofft auch in Sachen Brexit auf mehr Dialogbereitschaft in Großbritannien, denn hier sehe er eine große Kluft in der Britischen Gesellschafft. Watson befürchtet, im Falle eines Hard Brexits auch eine Vertiefung dieser Klüfte und ein Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs: Binnen 5 Jahren könnte es zu einer Wiedervereinigung Irlands und in 10 Jahren zur Unabhängigkeit Schottlands kommen. Optimistisch stimme ihn die anwachsende proeuropäische Bewegung in Großbritannien, die in den letzten Wochen Millionen mobilisierte.
Neben dem Brexit spielten für die Teilnehmenden des Bürgerdialogs auch die Europawahl in den Diskussionen eine große Rolle. Für einen Teilnehmer war klar: „Wer Mehrheiten für Europa auch von den Bürgern haben möchte, der muss dafür sorgen, dass das Soziale in der EU wichtiger genommen wird.“ Regina Stipani vom Deutschen Gewerkschaftsbund Landesbüro Sachsen-Anhalt sah dies ähnlich und forderte von der Europapolitik: „Die Europäische Säule der sozialen Rechte muss nun mit Leben gefüllt werden.“ Hierfür sei ein europäischer Mindestlohn zentral, so Stipani. Auch Joachim Wuermeling, Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank, sprach sich für gewisse europaweite Mindeststandards innerhalt der EU aus, betonte aber zugleich, dass von den Mitgliedstaaten mit Blick auf Löhne und Steuern keine Einheitlichkeit erwartet werden könne. „Sonst geht die wirtschaftliche Beweglichkeit der Regierungen der EU-Staaten gegen Null und diese werden handlungsunfähig“, so Wuermelings Einschätzung.
Ziehen wir in der EU eigentlich noch gemeinsam an einem Strang oder sind wir gemeinsam einsam, wenn es um europäische Werte und Zusammenhalt geht? Dass die Gemeinsamkeiten überwiegen, davon war Sir Graham Watson überzeugt. Er stellte aber die Wichtigkeit einer gemeinsamen europäische Debatte statt nationaler Diskussionen heraus, um Gemeinsamkeiten zu bewahren und auszubauen. Die Europawahlkandidatin Anna Cavazzini forderte, auch längerfristige Ziele für die Weiterentwicklung der europäischen Integration zu formulieren: „Wir sollten die Europäische Union zu einer Föderalen Europäischen Republik weiterentwickeln und sie so demokratischer machen.“ Für Ministerpräsident Reiner Haseloff liegt die Hauptaufgabe der nächsten Jahre erst einmal darin, Großbritannien wieder in die EU zurückzuführen: „Die aktuelle Entwicklung ist nicht das Ende der Geschichte“, so Haseloff, auch weil gemeinsame Werte die Menschen mehr zusammenhielten als eine politische Entscheidung.
Ob die EU als Riese oder Zwerg in der Außenpolitik auftrete, diskutierten die Teilnehmenden mit Eva Heidbreder von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und dem Europaabgeordneten Arne Lietz. Heidbreder stellte fest, dass die EU in Handelsfragen bereits als Riese auftrete, in der Außenpolitik aber noch nicht. Jedoch sei dies besonders schwierig, da gerade in der Außenpolitik die nationalen Interessen dominierten und selbst wenn gemeinsame Ziele verfolgt würden, dies doch oftmals aus unterschiedlichen Motiven erfolge. Auch Arne Lietz meinte: „Europa muss gemeinsam unterwegs sein.“ Gerade in Fragen der Entwicklungszusammenarbeit und im Rahmen internationaler Organisationen wie der UNO sei dies noch ausbaufähig.
Moderiert wurde der Bürgerdialog von Vera Wolfskämpf, politische Journalistin, Katharina Borngässer, Europa-Union Berlin, und Christian Scharf, Europe-Direct Sachsen-Anhalt/Halle. Das vollständige Programm finden Sie hier. Der Bürgerdialog in Lutherstadt Wittenberg wurde von einer Graphic Recorderin begleitet, die die Diskussionsergebnisse in einem visuellen Protokoll festhielt. Die Veranstaltung wurde in Zusammenarbeit mit der Europa-Union Sachsen-Anhalt, den Jungen Europäischen Föderalisten Sachsen-Anhalt und dem Europe-Direct Sachsen-Anhalt/Halle organisiert.