Knapp 100 Tage vor den Europawahlen kamen am 7. März 2024 über 150 Gäste zum zweiten "European Townhall Talk" zusammen, um über die Gefahren eines Rechtsrucks bei den Wahlen zu diskutieren. Im Festsaal der Bremischen Bürgerschaft tauschten sich die Teilnehmenden im dynamischen Fish-Bowl-Format mit Prof. Dr. Pia Lange, Direktorin des Zentrums für Europäische Rechtspolitik, Dr. Thomas Köcher, Leiter der Landeszentrale für politische Bildung Bremen, und Helga Trüpel, Vorsitzende der Europa-Union Bremen und ehemalige Europaabgeordnete, aus.
Der Konsens war deutlich: Ein Erstarken europafeindlicher und rechtspopulistischer Stimmen ist nicht nur auf europäischer Ebene, sondern auch in Deutschland besorgniserregend.
So vermutet eine Studie der Denkfabrik European Council and European Relations, dass bei der EU-Wahl in mindestens neun Mitgliedstaaten rechtspopulistische und anti-europäische Parteien an erster Stelle stehen werden. Dies könnte die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments in eine demokratiefeindliche Richtung verschieben. Daher war ein zentrales Anliegen dieses Bürgerdialogs, die drängenden Fragen "In welcher Gesellschaft wollen wir leben?" und "Was steht auf dem Spiel?" zu diskutieren.
Schon zu Beginn der Diskussion war erkennbar, dass sowohl das generationsübergreifende Publikum als auch das Panel mit Sorge auf die anstehenden Europawahlen blicken. Doch die Expert:innen äußerten auch ihre Hoffnung durch die aktuelle Mobilisierung gegen rechtsextreme und antidemokratische Tendenzen. Gleichzeitig erkannten sie aber eine Bedrohung der liberalen Demokratie. Dr. Köcher stellte fest: „Unsere Demokratie befindet sich in einer Krise und ist ein System, das es zu schützen gilt!“. Auch die Zivilgesellschaft sei hier in der Bringschuld und müsse Verantwortung übernehmen. „Zu einem aufgeweckten Leben gehört es dazu, sich zu engagieren, zu informieren, eine Meinung zu bilden und diese auch ändern zu können“, so Frau Trüpel. Prof. Dr. Lange ergänzte: „Kern der Demokratie ist die Gesellschaft von Freien und Gleichen. Wenn wir dies erhalten möchten, müssen wir uns dafür einsetzen“. Die Expertin betonte zudem, dass die Gefahr eines zunehmend anti-demokratischen EU-Parlaments und die damit einhergehende Dysfunktionalität von der Politik stärker in die Öffentlichkeit getragen werden müsse.
Der Rechtsruck in der Gesellschaft stellt uns vor komplexe Probleme, für die es keine einfachen Lösungen gibt. Eine Partei hierbei zu verteufeln, wurde in der Diskussion aber als wenig sinnvoll erachtet. Genauso wie Schuldzuweisungen zwischen den etablierten Parteien. Stattdessen sei es nun wichtig, darüber nachzudenken, wie solche Herausforderungen überwunden werden können. Insgesamt wurde klar, dass nationale Lösungen in einer globalisierten Welt mit komplexen Herausforderungen nicht ausreichen. Eine Expertin ergänzte, dass es an europapolitischen Regierungen fehle, da zu oft nur nationale Interessen verfolgt würden.
Dr. Köcher erkannte, dass wir eine Frustrationstoleranz in der Demokratie benötigen. „In Europa brauchen wir viel Geduld, aber wir haben einen gemeinsamen Wertekonsens!“, so der Experte. Die Teilnehmenden äußerten daraufhin vermehrt den Wunsch nach einer Rückbesinnung auf diese Werte, aber auch nach einem stärkeren Engagement der Parteien im Europawahlkampf. Zusätzlich wurde betont: Demokratisches Engagement muss Spaß machen, um politische Apathie zu überwinden. Auch positive Visionen müssen in den Vordergrund gestellt werden, denn der Einsatz für eine demokratische Gesellschaft kann etwas bewegen. Kürzungen von finanziellen Förderungen für Träger zivilgesellschaftlicher Projekte oder regionaler Initiativen sind auf Unverständnis im Publikum gestoßen.
Andere Teilnehmer:innen forderten, die Institution Europa direkter, unmittelbarer und verständlicher zu gestalten. Als besonders wichtig wurde hierfür der Ausbau der politischen Bildung herausgestellt. Viele Schüler:innen äußerten den Wunsch nach einer besseren Vorbereitung auf die bevorstehende Europawahl. Die Forderung vieler Erstwähler:innen lautete: Die nächste Wählergeneration muss über die Funktionsweise und die Vorteile einer Demokratie aufgeklärt werden! Prof. Dr. Lange betonte, dass auch abseits von Schulen dafür gesorgt werden müsse, die Demokratie und den Wahlakt stärker ins Bewusstsein der Menschen zu bringen. Hierbei müsse darauf geachtet werden, alle Gesellschaftsgruppen zu erreichen.
Nach Meinung vieler Teilnehmenden sei zusätzlich eine verbesserte Medienkompetenz in der Gesellschaft notwendig. Wirkungsmechanismen sozialer Medien müssten besser verstanden werden, da sie durchaus zu antidemokratischen Wahlergebnissen beitragen könnten. Deshalb forderte Frau Trüpel in der Diskussion, die Algorithmen der sozialen Medien offenzulegen, damit demokratische Debatten auch online gewährleistet werden können.
Zum Abschluss der Diskussion wurden die Teilnehmenden gebeten, ihre Wünsche an die EU nach der Wahl am 9. Juni zu formulieren. Das darauffolgende Meinungsbild spiegelt die Schwerpunkte des Dialoges wider. Mehr politische Bildung! Aber auch soziale Gerechtigkeit, Frieden, europäische Einheit und Klimaschutz sind für die Teilnehmenden des Bürgerdialogs in Bremen in der kommenden Legislaturperiode besonders wichtig.
Der Europäische Bürgerdialog in Bremen wurde organisiert von der überparteilichen Europa-Union Deutschland in Kooperation mit dem Bevollmächtigten der Freien Hansestadt Bremen beim Bund und für Europa. Die Veranstaltung ist Teil der bundesweiten Veranstaltungsreihe "European Townhall Talks 2024" und wurde gefördert durch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung sowie das Europäische Parlament.
Bericht: Lena Reiter