Bürgerdialog Erfurt

Im voll besetzten Thüringer Landtag startete am 15. März die neue bundesweite Bürgerdialogreihe der Europa-Union Deutschland. Rund 200 Personen waren gekommen, um unter dem Titel „Europas Grenzen: Wir müssen reden!“  über die Zukunft von Schengen, europäische Flüchtlingspolitik, Reisefreiheit und die wirtschaftlichen und sozialen Chancen eines geeinten Europas zu diskutieren. Dabei standen dem Publikum hochkarätige Diskussionspartner aus der Thüringer Landespolitik und deutschlandweiten Institutionen und Verbänden Rede und Antwort.

 


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Europa-Union Präsidiumsmitglied Claudia Conen stellte dem Publikum die neue Bürgerdialogreihe vor. Nach dem Erfolg der Vorgängerreihe zum transatlantischen Freihandelsabkommen wolle die Europa-Union nun die aktuelle Diskussion um Flüchtlingskrise und den Mehrwert offener Grenzen und europäischer Zusammenarbeit in den Mittelpunkt stellen. „Mit den Bürgerdialogen wollen wir Räume für Austausch und Debatten zwischen den Menschen, politischen Entscheidungsträgern und gesellschaftlichen Akteuren schaffen“, so Conen.

Der Präsident des Thüringer Landtags Christian Carius freute sich über die zahlreichen Bürger, die das Diskussionsangebot des Bürgerdialogs angenommen hatten. „Europa stößt derzeit in vieler Hinsicht an Grenzen“, erinnerte Christian Carius mit Blick auf die aktuellen Herausforderungen wie die Diskussion um den Brexit, die Flüchtlingspolitik oder die Griechenlandkrise. Vor diesem Hintergrund warnte er eindringlich davor, dass Europa seinen Kern, die Wertegemeinschaft, aus den Augen verliere.

Das prominenteste Thema des Abends war die Situation der Flüchtlinge in und um Europa. Die Flüchtlingsthematik zog sich auch durch die Einstiegsdiskussion, die von Andreas Postel, Leiter des ZDF-Landesstudios Thüringen, moderiert wurde.
„Thüringen ist nicht überfordert, wenn mehr Menschen kommen. Das ist zu schaffen“, sagte die Thüringische Staatssekretärin für Europa Babette Winter. Über aktuelle Fragen wie die Unterbringung dürfe die Integration nicht vergessen werden. Dafür müssten die Kommunen finanziell ausgestattet werden. Sie wolle sich ihren Optimismus nicht nehmen lassen. Das Glas sei halb voll und es sei durchaus möglich, dass am Ende des Jahres ein Wiedererstarken des europäischen Gedankens stehe.

Die Landtagsabgeordnete und frühere Europaministerin Marion Walsmann sieht Europa am Scheideweg. Es sei wichtig, dass man sich auf das konzentriere, was die europäische Wertegemeinschaft ausmache. In der Flüchtlingskrise müsse besonnen gehandelt werden. „Es muss verhindert werden, dass Europa über diese Fragen auseinanderfällt“,  unterstrich Walsmann. Solidarität unter den Mitgliedstaaten sei wichtig, denn die Herausforderungen könnten nur gemeinsam bewältigt werden.

„Europa ist Teil der Lösung, Europa ist nicht das Problem“, bekräftigte Jörg Bentmann, Abteilungsleiter im Bundesinnenministerium. Es sei wichtig, über die Chancen zu sprechen, die in Europa stecken. „Damit Schengen funktioniert braucht Europa sichere Außengrenzen“, sagte Bentmann. Sichere Außengrenzen bedeuteten jedoch nicht, dass sich Europa abschotte, sondern vielmehr, dass staatliche Autoritäten wüssten, wer wie und warum nach Europa komme.

Der stellvertretende Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland Bernhard Schnittger zeigte sich zuversichtlich, dass beim EU-Türkeigipfel am 17./18. März eine europäische Lösung in der Flüchtlingsfrage gefunden würde. „Im Moment beschäftigen sich die Staats- und Regierungschefs nur mit Migration. Wir stellen uns keinen anderen Themen. Die Welt dreht sich aber weiter“, sagte Schnittger mit Blick auf Themen wie Klimaschutz und Digitalisierung.

In der Diskussionsrunde zum Thema innere Sicherheit unter der Leitung von MDR-Redakteur Axel Hemmerling standen die Themen Terror- und Extremismusbekämpfung sowie organisierte Kriminalität im Vordergrund. Gesprächspartner waren Jörg Bentmann, der Präsident des Thüringer Amtes für Verfassungsschutzes Stephan J. Kramer sowie der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft im dbb Rainer Wendt.

„Thüringen liegt im Herzen Europas und ist damit nicht nur Durchzugsraum, sondern auch Rückzugs- und Durchführungsraum für Kriminelle“, erklärte Stephan J. Kramer. Seine Behörde befasse sich mit Islamismus, dem sogenannten Rechtsterrorismus und dem Linksextremismus. In letzter Zeit stünden auch besonders Angriffe auf Asylbewerberheime im Zentrum.

„Die Sicherheitsbehörden sind innerhalb Deutschlands gut vernetzt“, sagte der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft im dbb Rainer Wendt. Ähnliches fehle noch auf europäischer Ebene. Wendt forderte die Einführung der Vorratsdatenspeicherung, um bessere Ermittlungserfolge zu erzielen. „Man kann Polizei und Nachrichtendienste nicht an Händen und Füßen fesseln und sich hinterher beschweren, dass sie nicht schnell genug gelaufen sind“, so Wendt.

Einig waren sich die drei Referenten, dass die Sicherheitsbehörden zwar gut aufgestellt seien, jedoch noch besser ausgestattet werden müssten und es auch beim Austausch mit den europäischen Nachbarn Verbesserungspotential gebe. Im Publikum wurde die Befürchtung laut, man könne durch verstärkte Aktivitäten der Sicherheitsbehörden zu „gläsernen Bürgern“ werden. Weitere Themen waren das Schengen-Informationssystem und der umstrittene Einsatz von V-Leuten.

In der von Andreas Postel moderierten Diskussionsrunde zum Thema „Binnenmarkt und Reisefreiheit versus sichere Grenzen“ mit Babette Winter, Bernhard Schnittger sowie dem Vertreter des Thüringer Flüchtlingsrates Martin Arnold ging es um die Art und Weise, wie Europa mit den Flüchtlingen an seinen Außengrenzen umgeht. Ein Publikumsgast berichtete von seinen Erfahrungen als Helfer im griechischen Flüchtlingslager Idomeni. Martin Arnold kritisierte die geplanten Regelungen mit der Türkei. Dadurch käme es zu illegalen Abschiebungen von Flüchtlingen. „Die EU hat nicht nur eine territoriale Grenze, sondern auch eine ideelle Grenze, nämlich ihre gemeinsamen Werte“, unterstrich Arnold. Derzeit schotte sich die EU selbst ab. Aus dem Publikum kam die Forderung, die EU dürfe keinen „Deal“ mit der Türkei auf dem Rücken der Flüchtlinge machen.

In der Diskussionsrunde über Europa als Wirtschafts- und Sozialraum, moderiert von Claudia Conen, nahm das Flüchtlingsthema ebenfalls viel Raum ein. Gesprächspartner waren Martin Kumstel von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, der stellvertretende Vorsitzende des DGB Bezirk Hessen-Thüringen Sandro Witt und die ehemalige Europaministerin Marion Walsmann MdL.

„Wenn wir wollen, dass die Flüchtlingsströme aufhören, dann müssen wir aufhören, Waffen zu verkaufen“, sagte der DGB-Vertreter Sandro Witt. Der Wirtschaft stellte Witt ein positives Zeugnis beim Thema Flüchtlinge aus. „Die Wirtschaft ist dabei, an allen Stellen Integration zu schaffen“, lobte Witt. Die zentrale Frage lautet für ihn, wie man einen handlungsfähigen Staat schaffe. Deutschland brauche mehr Verteilungsgerechtigkeit. Das nötige Geld dafür sei vorhanden. Mit Blick auf die Aufgabe der Integration rief er zu mehr Gelassenheit mit einander auf.

Martin Kumstel von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände unterstrich dass der Spracherwerb bei der Integration das A und O sei. Auch Werte wie Rechtsstaatlichkeit müssten vermittelt werden. Offenheit sei von beiden Seiten eine wichtige Voraussetzung. Dann könne Migration eine Bereicherung werden. Für Betriebe sei es außerdem wichtig, dass Geflüchtete längerfristig in Deutschland blieben, damit sich eine Ausbildung auch lohne.
Es herrschte Einigkeit zwischen Podium und Publikum, dass bei der Sozialunion Europa bislang noch zu wenig getan habe und es noch viel Entwicklungspotenzial gebe.

Gabriele Kalb dankte Publikum und Referenten für ihre Beteiligung. „Europa braucht Mitmacher und Mutmacher, Menschen wie Sie, die sich einbringen“, und lud das Publikum zu den kommenden Veranstaltungen der Europa-Union Thüringen ein.

Der Bürgerdialog in Erfurt wurde in Kooperation mit der Europa-Union Thüringen sowie dem Europäischen Informationszentrum Thüringen durchgeführt.