Schon bevor die Veranstaltung startete, nutzten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Gelegenheit, ihre Präferenz für die künftige Gestalt der EU zu wählen. Das Ergebnis der Umfrage über die fünf im Weißbuch der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Zukunftsszenarien zeigte, dass sich die Anwesenden mehrheitlich für eine Intensivierung der europäischen Zusammenarbeit aussprechen und mehr Politikbereiche auf europäischer Ebene behandelt wissen wollen. Auch die JEF Hessen lud mit einer Bodenzeitung der zur Diskussion darüber ein, was sich in der EU ändern müsse.
Hildegard Klär, stellvertretende Vorsitzende der Europa-Union Hessen, brachte es zum Auftakt des Bürgerdialogs auf den Punkt: „Wir müssen uns entscheiden, in welchem Europa wir in Zukunft miteinander leben wollen.“ Gerade heute, wo die EU von vielen Seiten unter Beschuss stünde, sei es wichtig, sich mit ihr zu befassen. Mit ihrer Bürgerdialogreihe wolle die Europa-Union eine Plattform schaffen, wo Bürger und Entscheidungsträger miteinander auf Augenhöhe diskutieren könnten.
Der Präsident des Hessischen Landtages Norbert Kartmann bemerkte in seinem Grußwort, dass die schwierige Situation Europas auch positives hervorbringe. Beispielsweise interessierten sich die Menschen in seinem Wahlkreis plötzlich für die Französischen Präsidentschaftswahlen, weil es ihnen wichtig sei, dass Europa zusammenbleibe. „Europa ist vom Prinzip her nicht ersetzbar“, ist Kartmann überzeugt.
Jochen Pöttgen, Leiter der Regionalvertretung der Europäischen Kommission in Bonn, stellte die fünf Szenarien des neuen Weißbuchs der Europäischen Kommission zur Zukunft der EU vor. Die Kommission verstehe diese Szenarien als Denkanstöße, so Pöttgen. „Wir erwarten jetzt von den Mitgliedstaaten, dass sie entscheiden, in welche Richtung sie gehen wollen“. Die Kommission sei für die anschließende Umsetzung zuständig. Christoph Wolfrum, Referatsleiter in der Europaabteilung im Auswärtigen Amt, sagte, dass die Bundesregierung den Weißbuchprozess sehr begrüße. „Wir brauchen darüber eine breite Diskussion in der Gesellschaft“, so Wolfrum. Letztendlich müssten die Menschen sagen, welches Europa sie wollten. Beim Thema Zukunft Europas wurde auch über den Brexit diskutiert. Aus dem Publikum kam die Sorge, dass in Großbritannien lebende EU-Bürger und Briten in anderen EU-Staaten als Pfand in den Verhandlungen genommen würden. Christoph Wolfrum betonte, dass die Bundesregierung dieses Thema sehr ernst nehme. Es sei eine Priorität, die Lebensentscheidung der betroffenen EU-Bürger zu sichern.
Die wirtschaftliche und soziale Situation der Menschen in der EU interessierte das Publikum besonders. „Beim Thema soziales Europa müssen wir nachlegen“, unterstrich der Europaabgeordnete Thomas Mann. Das Europäische Parlament habe sich deshalb mit Nachdruck für die Schaffung der „Jugendgarantie“ eingesetzt, in deren Rahmen arbeitslosen Jugendlichen innerhalb von vier Monaten eine Beschäftigung, Lehrstelle oder Weiterbildung angeboten werde. Die EU brauche eine Sozialpolitik, die die Menschen auch spürten, sonst verliere sie in breitem Maß an Zustimmung, betonte Mann, der Mitglied im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten ist. Diese Ansicht teilte auch Matthias Körner, Geschäftsführer des Deutschen Gewerkschaftsbundes Mittelhessen. „Es wächst eine Generation nach, die um Größenordnungen schlechter ausgebildet ist, als die Generation ihrer Eltern“, warnte Körner mit Blick auf die noch immer hohe Jugendarbeitslosigkeit und die damit einhergehende fehlende Aus- und Weiterbildung in den Betrieben. Utz Tillmann, Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Chemischen Industrie, regte an, dass Staaten mit hoher Jugendarbeitslosigkeit erfolgreiche Ausbildungskonzept anderer Länder übernehmen könnten. Er wies darauf hin, dass durch die Mobilität auch viele junge Menschen aus Südeuropa in deutschen Betrieben ausgebildet würden.
Gerald Kummer, stellvertretender Vorsitzender des Europaausschusses des Hessischen Landtages, gab zu bedenken, dass es Deutschland im Vergleich mit anderen Staaten auch deshalb so gut ginge, weil die deutsche Wirtschaft in andere EU-Staaten exportiere. „Wenn wir Europa als Großes und Ganzes sehen, dann ist es unsere Pflicht und Schuldigkeit, dafür zur sorgen, dass es allen gut geht“, so Kummer. Genauso wie es Aufgabe von Bundes- und Landesregierung sei, für gleiche Lebensbedingungen zu sorgen, müsse es auch im vereinten Europa zu einigermaßen gleichen Lebensverhältnissen kommen, damit es nicht auseinanderfalle, sagte Kummer.
Aus dem Publikum kam die Kritik, dass oft alles Schlechte der EU angelastet würde. Ein Teilnehmer betonte, die wirtschaftlichen Probleme seien überwiegend Ergebnis nationaler Politik, gleichzeitig sei er aber überzeugt, dass die soziale Säule der EU weiterentwickelt werden müsse. Utz Tillmann betonte, dass die Lösung von wirtschaftlichen Ungleichgewichten in der EU nicht darin liegen könne, die deutsche Wettbewerbsfähigkeit zu reduzieren, sondern die strukturellen Probleme in den anderen Staaten anzugehen und diese Länder fit zu machen. Jochen Pöttgen wies auf die europäischen Fonds hin, die bei der Entwicklung vor Ort helfen. Damit diese ihre Wirkung entfalten, sieht Thomas Mann aber auch die Mitgliedstaaten in der Pflicht. Manche Staaten hätten die Regionalfonds nicht dafür genutzt, dass sich die Dinge vor Ort änderten.
Weitere Themen, die das Publikum in die Debatte einbrachte, waren der Ablauf von Vertragsverletzungsverfahren, die Frage europäischer Solidarität am Beispiel der Flüchtlingssituation in Griechenland und der Beitrag, den die EU handels- und entwicklungspolitisch zur Bekämpfung von Fluchtursachen in Afrika leisten kann. Diskutiert wurde auch über grenzüberschreitende Energiepolitik und den Atomausstieg, über das Konzept eines europäischen Mindestlohns und die Idee einer europäischen Armee. Stimmen aus dem Publikum forderten nicht nur mehr europäische Visionen und mehr europäische Zusammenarbeit, sondern auch die Förderung von Projekten, die Emotionen für Europa weckten.
Christopher Plass, Leiter des Hörfunkstudios des Hessischen Rundfunks in Wiesbaden, und Stefan Schröder, Chefredakteur des Wiesbadener Kuriers und Wiesbadener Tagblatts, führten souverän durch den Abend und moderierten die vielseitigen Debatten zwischen Publikum und Experten.
Zum Abschluss des Bürgerdialogs dankte Peter H. Niederelz, Vorsitzender der Europa-Union Landeshauptstadt Wiesbaden/Rheingau-Taunus, dem Publikum für die engagierten Diskussionen und rief dazu auf, die Debatte weiterzuführen und an der europäischen Idee festzuhalten. Er erinnerte zudem an die historische Bedeutung des Veranstaltungsortes. Im Jahr 1949 wurde im Kurhaus Wiesbaden die Europäische Bewegung Deutschland gegründet, die sich bis heute für ein geeintes Europa einsetzt und der die Europa-Union Deutschland als Mitglied angehört.
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