Bürgerdialog in Rostock: Europas Zukunft liegt in mehr gemeinsamem Handeln

Vier Tage nach der Bundestagswahl lud die Europa-Union in Rostock ein zum Bürgerdialog „Und jetzt, Europa? Wir müssen reden!“. Erwartungen der Teilnehmenden an die europäische Politik und Nutzen der EU für die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern standen ebenso im Zentrum wie die Sorge vor dem Zerbrechen der EU und die Forderung nach einem sozialen Europa.

Panel des Themenraums „Europas Rolle in der Welt“: Enrico Kreft, Annegret Bendiek, Jascha Dopp und Moderator Bernd Kalauch. Foto: Henrik Golla

„Rostock profitiert in besonderem Maße von der EU“, sagte Holger Matthäus, Senator für Bau und Umwelt der Hansestadt Rostock, zur Eröffnung im Rathaus. „Obwohl wir am Rand von Deutschland leben, sind wir trotzdem mitten in Europa“, unterstrich Matthäus. Durch die „Union of Baltic Cities“ sei Rostock stark mit anderen europäischen Städten im Ostseeraum vernetzt.

„Seit über 60 Jahren leben wir in Europa friedlich miteinander. Dieser Grundkonsens darf nicht aufgekündigt werden“, sagte Enrico Kreft, Präsidiumsmitglied der Europa-Union Deutschland, in seiner Begrüßung. Die Bürgerdialoge, die die Europa-Union mit ihren Partnern bundesweit organisiert, leisteten einen Beitrag zur Debatte über die künftige Richtung der Europäischen Union. Dass dies notwendig ist, findet auch Michel Seidel, Chefredakteur der Schweriner Volkszeitung. „Wir kommen endlich wieder ins Gespräch über etwas, das schon fast selbstverständlich geworden ist“, so Seidel.

Das Weißbuch zur Zukunft Europas der Europäischen Kommission, Jean-Claudes Junckers Rede zur Lage der EU von Anfang September und die Europa-Rede von Emmanuel Macron an der Sorbonne fanden während des Bürgerdialogs häufig Erwähnung. Thomas Kaufmann von der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland, stellte den Weißbuchprozess zur EU-Zukunftsdebatte vor und erklärte Arbeit und Selbstverständnis der Europäischen Kommission unter ihrem Präsidenten Juncker. Er unterstrich die demokratische Legitimation der Kommission, deren Kommissare alle vom Europäischen Parlament gewählt würden. Über die Jahre habe sich die Europäische Kommission sich weiterentwickelt. Im Vorfeld aller großer Gesetzesvorschläge, die später von Europäischem Parlament und Mitgliedstaaten behandelt und verabschiedet würden, verfasse die Kommission heutzutage Weißbücher. Diese würden veröffentlicht und in einem öffentlichen Konsultationsprozess zur Diskussion gestellt. Die Bevölkerung könne so ihre Meinung einbringen. Kommissionspräsident Juncker wolle sich auf das beschränken, was wichtig sei. Daher habe sich die Juncker-Kommission auf wenige wichtige Initiativen beschränkt. Während es in früheren Zeiten bis zu 200 Gesetzesinitiativen gegeben habe, seien es unter Juncker 30. Mit Blick auf die Vorschläge in der EU-Zukunftsdebatte sagte Kaufmann: „Man muss ich ein Ziel setzen, damit man weiß, wohin das ganze gehen soll.“

Die Frage nach der Zukunft der EU zog sich wie ein roter Faden durch den Abend. „Die EU wird scheitern“, war ein Teilnehmer überzeugt und erntete damit viel Wiederspruch. „Das Europa, wie wir es einmal haben wollen, können wir nicht aus dem Boden stampfen“, entgegnete ein anderer Teilnehmer. Es müssten die Berührungspunkte gefunden werden, auf deren Grundlage Europa weiterentwickelt werden könne. „In der nächsten oder übernächsten Generation wird Europa ein anderes Gesicht haben als wir es heute kennen, und die Menschen werden sich fragen: ‚Worüber haben die sich damals eigentlich gestritten?‘“, ist er überzeugt. Auch Enrico Kreft zeigte sich mit Blick auf die Zukunft der EU zuversichtlich. „Ich bin überzeugt, dass Europa nicht scheitern wird“, unterstrich Kreft. Dies lehre ihn die positive Erfahrung der deutschen Wiedervereinigung, die ebenfalls eine große Herausforderung dargestellt habe. „Aus diesen Erfahrungswerten schöpfe ich die Kraft, dass wir das hinbekommen. Wir müssen das schaffen“, so Kreft.

Annegret Bendiek von der Stiftung Wissenschaft und Politik betonte die Notwendigkeit sozialer Fortschritte in der EU. „Wenn wir die Kluft zwischen Arm und Reich in Europa nicht verringern, ist das die beste Bedingung dafür, dass Europa scheitert“, warnte Bendiek. Dafür seien Angleichungen erforderlich. Besonders in den Bereichen Beschäftigung, Soziales und Innovation müssten die Bedingungen auf ein ähnliches Niveau gehoben werden. Ein anderes Thema, bei dem die EU mehr zusammen handeln müsse, sei das „Europa der Sicherheit und Verteidigung“. Hier müsste einerseits der Daten- und Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten verbessert und andererseits die Investitionen im Rüstungsbereich abgestimmt und zusammengeführt werden, Stichwort „Pooling and Sharing“. Dies würde Ressourcen einsparen und so die öffentlichen Haushalte entlasten. „Die Risiken von außerhalb der EU sind für alle gleich“, resümierte Bendiek.

Dies sieht auch Jascha Dopp so. Der Leiter des Referats EU-Grundsatzfragen im Ministerium für Inneres und Europa Mecklenburg-Vorpommern nannte die Terrorismusbekämpfung und die Cybersicherheit als zwei weitere dringende Herausforderungen. „Alle diese Probleme können zum Scheitern Europas führen“, unterstrich Dopp. Die Themen Soziales, Verteidigung, Bekämpfung des internationalen Terrors und Cybersicherheit könnten einzelne Nationalstaaten alleine nicht bewältigen. „Europa darf nicht scheitern, sonst haben wir eine riesige Katastrophe“, bekräftigte Dopp. Dass er damit auch die Meinung des Publikums traf, zeigte der große Applaus. Doch Dopp ist auch zuversichtlich. Man habe immer wieder sehen können, dass die EU zu Lösungen gekommen sei, wenn ein großes Problem vor der Haustür gestanden habe.

Das Thema soziales Europa war auch Gegenstand zahlreicher Beiträge aus dem Publikum. Viele wünschten sich einen deutlichen Ausbau der sozialen Dimension der EU. Der Europaabgeordnete Werner Kuhn erklärte, dass es zwar viele Politikbereiche gebe, in denen die EU zuständig sei, es allerdings bislang keinen Auftrag gebe, eine Sozialunion in Angriff zu nehmen. Gleichwohl seien manche Regeln bereits EU-weit gesetzt, beispielsweise im Bereich Arbeitsschutz. Auch die EU-Entsenderichtlinie habe zum Ziel, gleichen Lohn an gleichem Ort für gleiche Arbeit zu garantieren. Im Gespräch sei ebenfalls eine europäische Arbeitslosenversicherung, da von diesem Problem alle Mitgliedstaaten betroffen seien.

Schon vor Veranstaltungsbeginn konnten die Anwesenden über die im Frühjahr von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Zukunftsszenarien abstimmen. Die Umfrage ergab, dass sich die meisten mehr gemeinsames europäisches Handeln wünschen. Dieser Eindruck wurde auch in den Themenräumen bestätigt, wo trotz mancher Kritik ein starkes Bewusstsein für die Errungenschaften des geeinten Europas vorherrschte.

Jürgen Lippold, Landesvorsitzender der Europa-Union Mecklenburg-Vorpommern, zog eine positive Bilanz des Abends. Er verband seinen Dank an das engagierte Publikum und die Mitwirkenden mit der Einladung, die Angebote der Europa-Union an Veranstaltungen und Seminarfahrten auch in Zukunft zu nutzen. Beim Ausklang des Abends setzten die Anwesenden die begonnenen Debatten weiter fort und knüpften Kontakte für kommende Projekte, wie Reisen für Schulklassen nach Brüssel oder die Gestaltung des Europatages an Rostocker Schulen.

Moderiert wurde der Bürgerdialog von Bernd Kalauch, freier Journalist beim NDR, und Michael Seidel, Chefredakteur der Schweriner Volkszeitung und den Norddeutschen Neuesten Nachrichten.

Die Europa-Union Deutschland veranstaltete den Rostocker Bürgerdialog in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Integrationszentrum Rostock e.V., der Hansestadt Rostock, der Europa-Union Mecklenburg-Vorpommern, ihrem Kreisverband Rostock sowie den Jungen Europäischen Föderalisten Mecklenburg-Vorpommern.